11.09.2013 | Wann ist man integriert?

Bericht von Rena Lehmann und Dietmar Telser vom 11.08.2013 aus der Westerwälder Zeitung


Wann ist man integriert?

Berlin/Rheinland-Pfalz. Ist ein Ausländer integriert, wenn er ein schönes Deutsch spricht und einen festen Arbeitsplatz hat? Wenn er einen Gartenzwerg aufstellt und im Schützenverein ist? Oder wenn er sich an Recht und Ordnung hält?

Passgenau, aber trotzdem noch zu unterscheiden: So stellen sich Experten die funktionierende Integration vor.

Was heißt das eigentlich: integriert sein? Und wer legt das fest? Eine Reise durch das Land mit immer derselben Frage: Was bedeutet Integration?

Wenn es so ist, wie der Koblenzer Fußballtrainer Milan Sasic (54) meint, dann ist eine Mannschaft nichts anderes als ein Miniaturbild der Gesellschaft. Die Spieler, das sind die Bürger, und er, der Trainer, er ist so etwas wie ein Manager oder ein Politiker, der die Gemeinschaft führt. Wird Sasic gefragt, was für ihn Integration bedeutet, dann spricht er deshalb über ein Spiel und wie jeder dabei auf seinen Mitspieler angewiesen ist. "Jeder einzelne Spieler braucht einen Mitspieler, um erfolgreich zu sein", sagt er. Der Stürmer den Mittelfeldspieler, der Tormann den Verteidiger, unabhängig von der Herkunft, den Eigenarten und der kulturellen Prägung. "Eine Fußballmannschaft muss eine Einheit werden", sagt Milan Sasic, "allein kann kein Spieler ein Spiel gewinnen." Und um nichts anderes gehe es in einer Gesellschaft.

Milan Sasic, Fußballtrainer: "Jeder Spieler braucht einen Mitspieler, um erfolgreich zu sein." 


Sasic hat in wenigen Jahren die TuS Koblenz von der Amateurliga bis in die zweithöchste Klasse geführt. Bei der TuS spielten Deutsche, Türken, US-Amerikaner, Albaner, Serben, Bosnier und Kroaten. "Serbien, Bosnien und Kroatien", wiederholt Sasic, Länder, die wenige Jahre zuvor noch gegeneinander Krieg geführt hatten. Sasic hat das Team zu einer Mannschaft geformt. Weil er die unterschiedlichen Mentalitäten, wie er sagt, integriert hat. "Ehrlichkeit und Respekt", sagt Sasic, das ist der Schlüssel zur Integration, denn dann entsteht auch Vertrauen. Und es muss nicht immer harmonisch ablaufen. Oft genug bedeutet Integration Reibung und Missverständnisse. Integration ist nicht immer nett, sagt Sasic. Entscheidend sei, dass sie zu Erfolgen führt.

Ali Kizilirmak (51) murrt ein wenig, wenn er das Wort Integration hört. Der Restaurantinhaber macht gerade Mittagspause, sitzt an einem Tisch seines Restaurants Göreme in der Westerburger Altstadt und löffelt eine Suppe. "Ich muss mich immer dann mit dem Begriff beschäftigen, wenn die Politik das Thema wieder einmal entdeckt hat", raunt er. Kizilirmak lebt seit 30 Jahren in Deutschland, seit 15 Jahren im Westerwald, er spricht hervorragend Deutsch, man kann sagen, dass er längst angekommen ist in dem Land. "Erst wenn die Politiker über Integration reden, wird mir bewusst, dass ich eigentlich aus dem Ausland stamme."

Kizilirmak fährt ein Suzuki-Motorrad. Früher dachte er, Motorradfahrer, das sind sonderbare Menschen, tätowiert, lange Haare, seltsame Typen. Heute fährt er mit Freunden auf dem Motorrad durch Deutschland. "Was heißt schon gut oder schlecht integriert?", fragt er. "Wenn jemand Blödsinn macht, dann ist doch egal, wo er herkommt. Dann hat er eben Blödsinn gemacht."

Kizilirmak hat seine alte Staatsbürgerschaft abgegeben. "Ich bin Deutscher geworden, weil ich mitentscheiden will", sagt er, "ja, ich freue mich auf die Wahl." Er hätte seinen alten Pass gern behalten. Denn auch die Türkei ist seine Heimat geblieben. Drei Jahre hat er dort gearbeitet und nun seinen Rentenanspruch verloren. Die doppelte Staatsbürgerschaft wird von der CDU verhindert. Mit der Entscheidung für eine Staatsbürgerschaft muss er sich festlegen: "Entweder man ist drin oder draußen."

Alwin Scherz, Ortsbürgermeister: "Integriert ist jemand, wenn es selbstverständlich ist, dass er bei einem Fest dabei ist."


Immer mehr Menschen stehen vor denselben Fragen wie Kizilirmak. Das zeigt sich in Siershahn im Westerwald. Gerade wird die Kirmes vorbereitet. Schausteller bauen ihre Stände auf, die Straße wird gesperrt. Die Kirmes ist für CDU-Ortsbürgermeister Alwin Scherz auch ein Gradmesser der Integration. Er sagt: "Integriert ist jemand, wenn es selbstverständlich ist, dass er bei einem Fest dabei ist." Die Region ist bekannt für ihre Tonvorkommen. "Unser Rohstoff ist das Gold des Westerwaldes", sagt Scherz. Für das Schürfen sorgten in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger Ausländer. Die 2900-Einwohner-Gemeinde hat einen Ausländeranteil von 14 Prozent.

In Zukunft wird sich der Ort auf eine weiter wachsende Zuwanderung einstellen. Die Bevölkerung altert, immer weniger junge Familien leben in Siershahn, die örtlichen Unternehmen benötigen Fachkräfte. "Wir wollen als Ort eine Zukunft haben, wir brauchen Zuwanderung", sagt Scherz deshalb. Das wird nicht ohne Anstrengung gehen. Für Scherz funktioniert Integration vor allem über Sprache. "Es ist wichtig, dass Zuwanderer die deutsche Sprache beherrschen." Zu oft stellt er noch fest, dass Kinder im Umgang mit Behörden für ihre Eltern übersetzen müssen. Viele Leute seien gut ausgebildet, könnten aber wegen der schlechten Sprachkenntnisse keine Stelle finden. "Das ist fatal", sagt er, "hier muss der Staat ansetzen. Wir produzieren sonst nur noch mehr Arbeitslosigkeit."

Polizeiseelsorger Reinhard Behnke: "Integration ist das Zusammenfügen von Dingen, die nicht auf Anhieb zusammenpassen, aber zusammengehören."


Für Seelsorger Reinhard Behnke (55) ist die Sprache das wichtigste Arbeitsmittel. Man findet ihn im Polizeipräsidium am Moselring in Koblenz. Der evangelische Pfarrer berät Polizisten und unterrichtet an der Fachhochschule. Früher hat er in einer Kinderklinik gearbeitet. Das hat auch sein Verständnis von Integration geprägt. "Integration ist das Zusammenfügen von Dingen, die nicht auf Anhieb zusammenpassen, aber zusammengehören", sagt er und nennt ein Beispiel aus der Kinderklinik. "Wenn Eltern hören, dass ihr Kind chronisch krank ist, dann widerspricht dies ihrem Lebensentwurf." Integration heißt hier: "Ich muss eine Akzeptanz schaffen für das Fremde, das in mein Leben eingebrochen ist, das aber trotzdem zu mir gehört." Integration heißt für ihn nicht, dass sich beide Seiten schicksalhaft anpassen müssen. "Integration bedeutet ein Zusammenfügen, durch das sich beide Teile verändern." Es gilt, Empörung und Irritation wahrzunehmen. "Nur wer das Fremdheitsgefühl ernst nimmt, der kann auch einen Teil der Wut verhindern." Behnke sagt aber auch: "Ich möchte nicht gern über Definitionen sprechen, denn definiert wird oft, um anderes auszuschließen."

Die von Amtswegen höchste Instanz in Integrationsfragen sitzt Hunderte Kilometer entfernt im Berliner Bundeskanzleramt. Maria Böhmer, CDU, 63 Jahre alt, blickt hier von ihrem Schreibtisch in der fünften Etage direkt auf den Reichstag. Zwei Stockwerke darüber hat Angela Merkel ihr Büro. Integrationspolitik ist seit 2005 ins Zentrum der Macht gerückt. Heinz Kühn von der SPD war 1978 der erste Ausländerbeauftragte auf Bundesebene, seither war das Amt lange Zeit beim Arbeits- und Sozialministerium angedockt, seit 2002 im Familienministerium. Maria Böhmer ist die erste Staatsministerin in dem Amt, auch das kann als Aufwertung des Themas gedeutet werden. Sie hat jedoch weder ein eigenes Budget zu verteilen, noch kann sie selbst Gesetzesinitiativen anstoßen. Maria Böhmer veranstaltet viele runde Tische und Dialoge.

Maria Böhmer, Integrationsbeauftragte: "Integration heißt gleichberechtigte Teilhabe, damit jemand alle Chancen, die ein Land bietet, nutzen kann."


Aber auf die Frage, was Integration ist, hat nicht einmal sie eine einfache Antwort parat. Die Bundesregierung misst den Stand von Integration anhand von Zahlen. Wie viele Kinder mit ausländischen Eltern besuchen die Kita? Wie gut sind die Sprachkenntnisse? Welche Bildungsabschlüsse werden erreicht? Wie viele Ausländer haben eine Arbeit? "Aber das ist letztlich nur Statistik", sagt Böhmer. "Integration heißt gleichberechtigte Teilhabe, damit jemand alle Chancen, die ein Land bietet, nutzen kann." Integration heißt für sie, in diesem Land anzukommen. Es handle sich um einen "wechselseitigen Prozess". Wer herkommt, muss sich bemühen, wer schon da ist, muss offen sein. In der Integrationspolitik wird gern mit Phrasen hantiert. Böhmer spricht seit Langem von einem "Klimawandel hin zu einer Willkommenskultur", der gelingen müsste. Sie sagt, dass es "noch nie so viel Integration in Deutschland gab wie heute".

Beim Sachverständigenrat für Migration und Integration ist man sozusagen professionell auf der Suche nach der Definition von Integration. Am Hackeschen Markt in Berlins junger Mitte tobt das internationale Leben. Akkordeonspieler aus Rumänien ziehen an den Tischen vorüber, an denen junge Spanier sich von ihrer Besichtigungstour durch das Regierungsviertel ausruhen. Über der vielstimmigen Partymeile thront in einem Bürohaus der Sachverständigenrat für Integration und Migration. Erst 2008 von acht Stiftungen gegründet, ist das Forscherteam heute eine Instanz geworden. In jedem Frühjahr legen sie einen Bericht vor, wie es um die Integration von Migranten in Deutschland steht. In den nüchternen Büroräumen hängen keine Bilder.

Die Vorsitzende Christine Langenfeld spricht von einem "partizipatorischen Integrationsbegriff". Langenfeld erklärt, was das heißen soll: "Der Sachverständigenrat definiert Integration als chancengleiche Teilhabe aller Menschen in allen Lebensbereichen." Früher ist Integration als "gemeinsamkeitsloses Nebeneinander" missverstanden worden. Heute, sagt sie, "hat sich ein Verständnis von Integration als einem Prozess auf Gegenseitigkeit durchgesetzt". Beim Sachverständigenrat tut man sich schwer mit einer kurzen Erklärung. "Von gelungener Integration kann man sprechen, wenn der Einzelne seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend am gesellschaftlichen Leben teilnimmt." Hier ist man stolz darauf, dass diese weite Definition des Beirats von Integration "in einem ganz breiten politischen Spektrum mittlerweile Standard ist". Den universellen und einzig richtigen Weg, sich zu integrieren, gebe es allerdings gar nicht.